Man sieht Claire Simon 2013 bei den Dreharbeiten zu "Gare du Nord".
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Claire Simon 2013 bei den Dreharbeiten zu "Gare du Nord"

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"Nimm eine Kamera und dreh!" Claire Simon im Münchner Filmmuseum

Seit bald 50 Jahren macht sie Filme, ist einem breiteren Publikum aber unbekannt. Das Filmmuseum will das ändern und hat Claire Simon eine umfassende Retrospektive gewidmet, mit 17 abendfüllenden Dokumentar- und Spielfilmen sowie acht Kurzfilmen.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

"Das ist toll, dass Du das filmst, Claire Simon", sagt eine Frau, die auf dem OP-Tisch liegt und ihren Kopf kurz Richtung Kamera dreht. Sie liebe das Kino.

"Notre Corps" heißt der Dokumentarfilm, der dieses Jahr bei der Berlinale gefeiert wurde und jetzt im Münchner Filmmuseum zu sehen war. Fast drei Stunden lang – der beeindruckende filmische Ritt durch eine gynäkologische Klinik in Paris. Die Regisseurin nennt ihn einen "Walzer der Schicksale".

Ein Dokumentarfilm über Leben und Tod

"Ein Krankenhaus ist eine Welt, zu der jeder Mensch mit seiner eigenen Geschichte kommt", sagt Claire Simon. Diese Welt wird bei ihr so beeindruckend wie berührend erlebbar. Als Kosmos individueller Momentaufnahmen. Die Regisseurin zeigt Geburten und Krebsdiagnosen, Beratungsgespräche zu Abtreibungen, die Hormontherapie für eine ältere Transfrau, Geschlechtsumwandlungen und künstliche Befruchtungen.

Sie beobachtet präzise und in langen Einstellungen, was alles passiert in diesem Krankenhaus. Sie zeigt, wie geredet, gelacht und geweint wird. Sie erforscht, was es bedeutet, in einem weiblichen Körper zu leben, und sie macht mit zunehmender Dauer Strukturen sichtbar, wo man zuerst nur individuelle Nöte vermutet. Körper und Krankheit. Körper und Gesellschaft – plötzlich bekommt alles eine Dimension weit über das Individuum hinaus. Leid wird geteilt. An Freude partizipiert.

Körper und Kino

Das Kino sei physisch, sagt Claire Simon – es gehe darum, einen gemeinschaftlichen Körper zu erleben: "Es ist von Beginn an physisch gewesen, man denke nur an Charlie Chaplin. Wenn man etwas physisch erlebt, ist das bewusstseinserweiternd und manchmal verändert das auch die eigene Meinung über etwas."

In dem Dokumentarfilm "Notre Corps" sind ausführlich Frauen zu sehen, die sich künstlich befruchten lassen. Als Zuschauerin und Zuschauer entwickelt MAN plötzlich ein Gefühl für diese Prozedur, bekommt mit, was das für ein Paar oder eine Einzelperson bedeutet, ein Baby zu "machen". Man fängt in diesem Film an, etwas zu verstehen und findet sich selbst wieder – in einem Gespräch zwischen Patientin/Patient und Arzt; oder in einem Symptom; in einem Ereignis.

Die Kamera auf Augenhöhe

Die in London geborene französische Regisseurin Claire Simon folgt ihren Eingebungen, ihrer Intuition, ihrer Offenheit. Sie macht ohne Beurteilungen, ohne den Menschen vor der Kamera ihre Würde zu nehmen, alles möglich. Gespräche über Leben und Tod, über Jugend und Alter. Die filmende Autodidaktin hat das vom Anfang ihrer Karriere an so gemacht. Sie lässt sich eine Kamera geben und beginnt zu filmen. Das war schon so, als sie 20 war. Mit dem ersten Geld, das sie verdiente, drehte sie einen Kurzfilm und lernte: "Man kann auch ganz frei ohne Drehbuch arbeiten."

Die eigene Krebserkrankung filmt sie auch

Unerschrocken ist Claire Simon. Die Frau auf dem OP-Tisch, die erklärt, sie liebe das Kino, ist sie selbst. Während sie an "Notre Corps" drehte, erkrankte sie an Brustkrebs. "Jetzt bin ich auch eine von den vielen", sagt sie im Film, "ich bin nicht die erste, die das hat."

Wie sie gestern in München mitteilte, ist sie wieder gesund. Sie hat überlebt – und wird weiter Filme machen. Sie taucht ein in soziale Mikrokosmen, mit der Kamera immer auf Augenhöhe, und nimmt uns mit in diese Welten voller eigener Geschichten.

"Notre Corps" wird noch einmal am Sonntag, dem 18. Februar, gezeigt. Die Retrospektive mit Filmen von Claire Simon im Münchner Filmmuseum läuft bis Ende Februar. Das Programm finden Sie auf der Homepage des Münchner Stadtmuseums.

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